
Studierende geben Schicksalen von Weltkriegssoldaten ein Gesicht
Schon als Kind ist Michele Ravizza magisch angezogen von diesen seltsamen Fugen und Wällen, denen er auf Streifzügen durch seine norditalienische Heimat begegnet. Vom Großvater erfährt er: Die Narben im Erdreich sind Schützengräben, in denen vor 110 Jahren Soldaten die Schrecken des Ersten Weltkrieges erlebten - und vielfach nicht überlebten. Am 23. Mai 1915 trat Italien in den Krieg gegen Österreich-Ungarn ein. Im folgenden Gebirgskrieg tobten ähnlich blutige Schlachten wie im Westen bei Verdun zwischen Deutschen und Franzosen.
Die Schicksale der Soldaten lassen dem jungen Mann aus Ponte di Legno in der Lombardei keine Ruhe; bis heute. "Ich bin 27, aber viele dieser Männer durften nicht mal so alt werden, weil sie unter feindliches Feuer fielen oder von Lawinen erstickt wurden", sagt Ravizza im Gespräch mit Kathpress. Was der Student in Agrarwissenschaft und Umweltmanagement an der Universität Mailand besonders absurd findet: "In den Bergen des Trentino kämpften Männer aus dem Grenzgebiet gegeneinander, die oft miteinander verwandt waren." Aber anonyme Kriegsberichte sagen nun mal nichts über menschliche Schicksale.
Tod im "Weißen Krieg" durch Frost und Lawinen
So nimmt er für seine Diplomarbeit "Management und Schutz der Umwelt in Gebirgsregionen" den Tonale-Pass im Trentino in den Blick. Im Ersten Weltkrieg war dieser Schauplatz vieler Gebirgsschlachten - dem "Weißen Krieg" mit Schnee, Frost und Lawinen. "Dort finden sich nach über 100 Jahren noch Spuren des Kriegs: Granattrichter, Stacheldraht, Reste von Militärdörfern auf fast 3.000 Metern Höhe, Mauern mit Schießscharten, vor allem aber Schützengräben", so Ravizza. Zugleich dokumentiert er anhand historischer Fotos Veränderungen der Vegetation und der einst riesigen Gletscher.
Aus seinen Recherchen entsteht 2021 das Buch "Tracce di Memoria". Diese "Spuren der Erinnerung" reichen inzwischen weit über Norditalien hinaus. Denn für eine Fortsetzung des Buchs recherchiert Michele im Österreichischen Bundesarchiv in Wien. Und findet Berichte und Kriegstagebücher - freilich auf Deutsch.
Studentinnen übersetzen Kriegsberichte
Die Texte einer digitalen Übersetzung anzuvertrauen, kommt für ihn nicht infrage, auch weil die schwer lesbaren Originale in antiquiertem Militär-Deutsch Lücken aufweisen. Zur Hilfe kommt ihm Professor Fabio Proia von der römischen Universität UNINT, spezialisiert auf deutsch-italienische Übersetzungswissenschaft. "Ich habe gleich zugesagt, weil ich Micheles Vorhaben fachlich spannend und historisch und gesellschaftlich wichtig finde", sagt Proia.
Mehr noch: Er entwickelt daraus ein Best-Praxis-Projekt zur Bedeutung der Übersetzung im Dienst der Geschichtsschreibung am Beispiel der Kriegsberichte, die Soldaten der 54. österreichischen Halbbrigade an der Verteidigungslinie des Tonale-Passes bis zum 31. Dezember 1915 verfassten. Die Studentinnen Francesca Balla, Angelica Candido, Giulia Claudia Cesarotti, Valentina Cilvanni und Chiara Lupi übersetzen die Texte ins Italienische - teils harter Tobak, nicht nur für junge Menschen.
"...bis zur Unkenntlichkeit verbrannt"
"Ad Erlass des Generals der Kavallerie Rohr (...) Kriegszustand gegenüber Italien hat begonnen", heißt es am 23. Mai 1915 in knappem Militärjargon am Tag des offiziellen Kriegseintritts Italiens. Dann, am 15. August 1915: "fortgesetzte Beschießung des Werks Tonale" - "2 Feuerwerker, 1 Korporal und 2 Kanoniere bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. 5 Mann der Beleuchtungsabteilung schwer Nervenchoc."
Diese Berichte hätten sie sehr betroffen gemacht, so die Studentinnen. "Plötzlich wurde uns klar: Wir übersetzen hier nicht Literatur, Fiktion; sondern diese schrecklichen Ereignisse haben echte Menschen erlebt, vielleicht genauso alt wie wir selbst."
Für die Wiener Diplomatin Teresa Indjein zeigt sich im Einsatz der italienischen Studierenden eine "sehr feine Form liebevoller Zugewandtheit" über Länder- und Zeitgrenzen hinweg - und das für Soldaten, die gegen die eigenen Vorfahren kämpften: Indem sie deren Berichte über das entsetzliche Leben an der Front übersetzten, machten sie die Erinnerungen an diese Toten, die zur Geschichte beider Länder gehörten, wieder lebendig, so die Direktorin des Österreichischen Kulturforums in Rom. "Das Projekt 'Tracce di Memoria' ist ein Dialog mit der Vergangenheit, ein Baustein, der unserem Bewusstsein helfen kann - im von so viel Gewalt gezeichneten Heute", so Indjein.
Infotafeln und QR-Codes an der ehemaligen Front
Für die Fortsetzung des Projekts samt neuem Buch sucht Ravizza weiterhin Fotos und Dokumente beider Seiten. "Wir wollen in der Region Infotafeln aufstellen und über QR-Codes unser gesammeltes Material über all diese Schicksale zugänglich machen", sagt der Autor. "So erhalten die kalten Kriegsberichte ein menschliches Gesicht."
(Info: Michele Ravizza: "Tracce di Memoria. La Grande Guerra in Montozzo, Tonale e Presena" ("Spuren der Erinnerung. Der Große Krieg in Montozzo, Tonale und Presena"), Lavis, Alcione 2021, 420 Seiten mit 270 Fotos plus Routenplaner; Porträtbilder von Michele Ravizza, Teresa Indjein und Fabio Proia zur Berichterstattung auf Anfrage bei Kathpress verfügbar)
Quelle: kathpress